

Bekömmlich und gesund
Ernährung nach Hildegard von Bingen von Bingen
Dass unsere Lebensmittel zugleich unsere Heilmittel sein sollen, stellte schon der Arzt Hippokrates in der griechischen Antike fest. Der enge Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit gehört inzwischen zum Allgemeinwissen, doch was meinte Hildegard dazu?
Von Dr. jur. Gabriele Feyerer
Hildegard hinterließ elementare Regeln für die täglichen Mahlzeiten, aber auch Ratschläge zur Behandlung verschiedenster Leiden durch eine optimierte Ernährung. Ihre Thesen unterscheiden sich stark von allen zeitgeistigen Diäten, die heute unüberblickbar sind und teilweise chaotisch anmuten. Die Hildegard-Küche ist abwechslungsreich und zeitlos, auch wenn sie manchen Verzicht erfordert. Dafür werden weder Kalorien gezählt, noch orientiert man sich am bloßen Vitalstoffgehalt der Nahrung. Für die Auswahl der Lebensmittel ist der in ihnen verborgene Heilwert ausschlaggebend – Hildegard spricht von „Subtilität“.

In der gesamten Hildegard-Heilkunde ist die richtige Ernährung eine von vier elementaren Säulen. Drei weitere sind das Fasten, Ausleitungsverfahren (Schröpfen, Aderlass) sowie Heilmittel aus der Natur – pflanzlich, tierisch oder mineralisch. Diese Sichtweise entspricht im Wesentlichen den Lehren traditioneller asiatischer Medizinsysteme. Auch darin bilden eine vernünftige, ausgewogene Lebensweise und richtiges Essen die Basis für gute Gesundheit, noch bevor andere Heilmittel zur Anwendung kommen. Harmonie, körperlich wie seelisch, ist ein zentraler Punkt.
Leitgedanken der Hildegard-Ernährung
Das wichtigste Leitmotiv bei Hildegard von Bingen ist die Mäßigung (lat.: discretio). Sei es beim Essen und Trinken, bei der Arbeit oder betreffend Schlaf, Entspannung und Sexualität. Allzu viel ist ebenso ungesund wie zu wenig. Wer sich an diese einsichtige Regel nicht hält, wird bald die negativen Folgen spüren. Immer wieder begegnet uns überdies der Ausdruck „Grünkraft“. Damit bezeichnete Hildegard die Fähigkeit von lebendiger Nahrung (Getreide, Gemüse, Obst, Kräuter), uns Energie zu verleihen und die Gesundheit zu fördern. Dass man bevorzugt Bioware essen soll, versteht sich also von selbst. Die schon genannte „Subtilität“ bezeichnet eine in der Nahrung wirksame Feinstofflichkeit, die sich wiederum von den „vier Elementen“ herleitet.

Die Wirkungen von Feuer, Wasser, Erde und Luft
Die vier Elemente sind nie rein chemisch aufzufassen, sondern bereits in der Antike, und bis heute in traditionellen Medizinlehren, veranschaulichte man so die jedem geläufigen Begriffe Feuer, Wasser, Erde, Luft und deren Wirkung auf den Menschen. So spricht auch die Tibetische Medizin oder die indische Ayurveda-Lehre von den „Energien“ Tripa, Lung und Beken bzw. Pitta, Vata und Kapha, die sich physikalisch, zugleich aber auch psychisch auf unsere Gesamtbefindlichkeit auswirken und über die Nahrung in den Körper gelangen. Das Element „Luft“ kommt meist seelisch beziehungsweise emotional zur Wirkung – Hildegard spricht sogar von quälenden „Luftgeistern“, die den Schlaf des Menschen durch Alpträume stören können. Zudem ist es immer wichtig, wann (Tages- oder Jahreszeit) oder wie gegessen wird (kalt, heiß, warm, kühl etc.) und in welcher Form man die Nahrung zubereitet. Dazu gibt es meist genaue Ratschläge in den Hildegard-Rezepten und für die Zubereitung natürlicher Heilmittel.
Zudem ist es immer wichtig, wann (Tages- oder Jahreszeit) oder wie gegessen wird (kalt, heiß, warm, kühl etc.).

Drei Substanzen, auf welche Hildegard immer wieder Bezug nimmt, nennt sie „Schleim“, „Phlegma“ und „Schwarzgalle“. Diese „Säfte“ sind nach moderner Medizinlehre so nicht bestimmbar. Dass sie jedoch Folgen in dem von Hildegard beschriebenen Sinn hervorrufen, beweist die Praxisbeobachtung. Heißt es etwa, ein Nahrungsmittel erzeuge „Schleim“, lässt sich ein klarer Bezug zur Lymphe herstellen. Herrscht im Körper Lymphstau, kann das viele Krankheiten nach sich ziehen, weil das Immunsystem belastet wird und stille Entzündungen entstehen können. Ebenso gilt „Phlegma“ bei Hildegard als störend für den Kreislauf und sehr häufig spricht sie von der „Schwarzgalle“, weil diese seelisch wie körperlich besonders ernste Leiden entfachen kann. Sie nennt diesen Stoff auch „Melanche“ und den negativen Zustand „Lanksucht“, was auf den im Mittelalter und noch lange danach verwendeten Begriff „Melancholie“ hinweist – also auf Depressionen, bis hin zur Selbstmordneigung. Die schädliche Schwarzgalle, so Hildegard, „… haucht alles Übel aus und erzeugt zuweilen sogar Krankheiten des Gehirns, lässt die Gefäße am Herzen aufsieden und führt zu Traurigkeit und Zweifel an jedem Trostwort, sodass der Mensch sich an nichts mehr freuen kann…“. Hier zeigt die Praxis immer wieder, wie nützlich die Ratschläge der Hildegard-Medizin gerade auf diesem Gebiet sind. Fenchel-Balsam-Tee, Veilchenwein und „Aruvin“ sind gute Beispiele. (siehe Artikel „Depression und Melancholie – was sagt Hildegard“ in der letzten Ausgabe von Deine Gesundheit, Nr. 5/2023)
Richtig essen heißt gut verdauen
Interessant ist die Aussage Hildegards, wonach die nährende Essenz der Nahrung zuerst nach „oben“ ins Gehirn gelangt, wofür schon Geruch und Geschmack wichtig sind. Erst dann geht der Speisebrei aus Magen und Darm auch ins Blut und die Organe und Gewebe über, wobei „Vernunft“ beim Essen auch für die richtige Verteilung sorgt. Magen und Dünndarm müssen besonders gut funktionieren, um gesund zu bleiben. Leber und Galle, danach Dickdarm und Nieren sorgen für richtige Entgiftung und Ausscheidung – sie zu pflegen ist unabdingbar und schon Hildegard könnte als Erfinderin des Intervallfastens gelten. Sie betonte, dass Gesunde das Frühstück weglassen können und nach zwei Mahlzeiten (mittags und etwa um 17 Uhr, im Winter früher) solle man zu Bett gehen und sich davor noch etwas bewegen. Alte, Kranke und Schwache dürfen natürlich öfter essen. Interessant ist der Ratschlag, nichts zu essen, bevor wir richtig wach sind, also nicht in der Nacht oder gleich nach dem Aufstehen.

Ziegenmilch heilt die kranke Lunge.
Trinken nach Hildegard
Übermäßiges Trinken galt nach Hildegard als schädlich, zum Essen gar nichts zu trinken, wird aber auch nicht empfohlen, denn der Magen braucht etwas Flüssigkeit. Ein zu „trockener Mensch“ würde schwerfällig im Denken. Als bestes Getränk galt im Mittelalter nicht Wasser (da oft verunreinigt), sondern gewässerter Wein und leichtes Gersten- oder Weizenbier, sonst riet Hildegard zu (Fenchel)tee oder abgekochtem Wasser (heute relativ zu sehen). Mineralwasser ist ungünstig und vor allem beim Trinken gilt Mäßigkeit – man soll viel Flüssigkeit aus gutem Gemüse und Obst beziehen (jedoch keine Smoothies oder unverdünnte Obstsäfte, sie belasten Magen und Darm). Nie brennheiß oder eiskalt essen und trinken. Den Kranken wurde gern ein Absud aus gekochten Dinkeloder Gerstenkörnern verabreicht, auch Apfelkompott mit dem Saft (nie von Birnen, auch nicht gekocht, dieser schadet). Getreidekaffee aus Dinkel oder Gerste wäre gesund, Milch dagegen ist kein Getränk, sondern ein Nahrungsmittel, das leicht „Schleim“ erzeugt.
Milchprodukte mit Bedacht
Butter ist in Maßen gut, Käse solle man mit Mutterkümmel essen und Ziegenmilch heilt die kranke Lunge. Sehr sinnvoll scheint der Rat, bei Kummer und Sorgen ausreichend und wohlschmeckend zu essen, während man sich der Völlerei auch bei freudigen Anlässen enthalten muss. Hildegard bezeichnete übrigens den Schlaf als „zweite Nahrung“ für den Menschen, denn so wachse das Knochenmark, welches „die Grundfeste des ganzen Körpers bildet“. Womit sie auch nach modernen Erkenntnissen völlig Recht behält.
Nicht alles, was schmeckt, muss für uns gut sein
Bei Hildegard heißt es leider ein wenig umdenken, was viele Lebensmittel betrifft, die heute als „gesund“ oder harmlos gelten. Einige davon erklärte Hildegard zu „Nahrungsgiften“. Das ist nicht wörtlich zu nehmen, doch zeigt sich, wie oft diese Dinge tatsächlich negativ wirken. Man kann es nur an sich selbst testen. Insbesondere hielt Hildegard nichts von Heidelbeeren, Erdbeeren, Pflaumen, Pfirsichen und rohen Birnen, auch nicht von Lauch (Porree), Lachs oder Schweinefleisch (Ausnahme: ein wenig für Kranke). Weitere Gemüse fand sie nutzlos bis schädlich – Sellerie fördere Melancholie, Kohlgemüse schade den Kranken und Linsen würden „die Schadsäfte Kranker zum Sturm reizen“. Hier geht es einerseits um die schwere Verdaulichkeit, aber insbesondere Steinobst oder Erdbeeren können Allergien, Gallenkoliken und Ekzeme auslösen. Gesunde merken kaum etwas, dennoch kann Vorsicht angeraten sein. Steinobst erzeugt häufig Migräne und Äpfel äße man wohl besser nur gekocht oder gebraten. Gekochte Birnen reinigen den Darm, aber unter Schmerzen und ihr Kochwasser schadet. Für überaus gesund befand Hildegard Quitten, Schlehen, Kornelkirschen oder Mispeln (alles im Fachhandel als Konfitüre und Gelee erhältlich), Maulbeeren, Brombeeren und Himbeeren. Kürbisgemüse, Rote Bete oder Fenchel sind gesund, außerdem süße Mandeln, Kastanien und Bohnen (beide auch als Mehl). Brennnesselgemüse sei nützlich zu essen (was wir heute ja wieder entdeckt haben). Als Küchengewürze sollte man unbedingt Bertram, Galgant und Quendel oft benutzen und das allerbeste Getreide ist, wie bald jeder weiß, bei Hildegard der Dinkel in jeder Form. Für Gesunde auch Hafer sowie biologischer Weizen (nur Vollkorn).
Empfohlen wird nach Hildegard, nur wenig Rohkost zu essen und Blattsalat immer gut mit (Wein-) essig und (Sonnenblumen-)öl anzumachen, wobei das Olivenöl – warum auch immer – sehr schlecht wegkommt. Man muss sich näher mit Hildegardmedizin befassen, um manche Hinweise zu verstehen. Viele der heute üblichen Nahrungsmittel, Nachtschattengewächse (Tomaten, Kartoffeln, Mais) oder diverse „Superfoods“ kannte Hildegard gar nicht, auch nicht Rübenzucker, Genussmittel oder exotisches Obst. Man kann jedoch aus ihren Hinweisen ableiten, wie vieles davon für eine gesunde Ernährung gar nicht nötig wäre oder besser nur sehr mäßig genossen wird. Hier ist die eigene Vernunft gefragt. Sich zeitweise genau nach ihren Vorgaben zu ernähren, hat jedenfalls schon unzähligen Kranken und „Halbgesunden“ die Energie und Lebensfreude zurückgebracht. Infos und Literatur, um sich genau über die Hildegardküche und das „Hildegard-Fasten“ zu informieren, gibt es ausreichend. Es gilt, das Thema entspannt anzugehen, Dinge einfach auszuprobieren, um das Passende für sich zu finden. Mehr Achtsamkeit in der täglichen Ernährung ist immer von Vorteil.
Aktuelle Bücher der Autorin
• „Padma – Die Kraft tibetischer Pflanzenmedizin“, Synergia Verlag 2021
• „9 Kräuter-Essenz. Pflanzenkraft aus dem Schatz indianischer Heilkunst“, Jim Humble Verlag 2016; (Leseprobe unter: www.jim-humble-verlag.com)
Literatur und Bezugsquellen (Auswahl)
• Helmut Posch: „Was ist Hildegard-Medizin?“ und „Hildegard von Bingen – eine neue Ära der Medizin?“, beide im Selbstverlag 1983 und 1992
• Dr. Wighard Strehlow: „Die Ernährungstherapie der Hildegard von Bingen: Rezepte, Kuren und Diäten“. Knaur MensSana 2009
• Gottfried Hertzka / Wighard Strehlow: „Große Hildegard-Apotheke: Die Medizin der hl. Hildegard von Bingen.“ Christiana Verlag 2017 (Standardwerk)
• Petra Maria Zitzenbacher: „Hildegard von Bingen Küche – Nachhaltig & heilsam kochen“. Freya Verlag 2020
• www.hildegard-universum.de (umfangreiche Infos, Erfolgsberichte)
• www.st-hildegard.com (Dr. Wighard Strehlow, Konstanz / Hildegard von Bingen-Stiftung)
• www.kleine-abtei.de/hildegard-von-bingen (Jura Naturheilmittel)
• www. HildegardvonBingen.at (Versand H. Posch, liefert auch nach Deutschland, eigene Drogerie und Produktion, Beratung, Zeitschrift „Hildegard-Kurier“)

Dr. Gabriele Feyerer lebt in der Steiermark / Österreich. Sie ist Sachbuchautorin und freie Medizinjournalistin, befasst sich seit Jahrzehnten mit Ganzheitsmedizin, Pflanzenheilkunde und Ernährungsproblemen, schreibt Ratgeber sowie Beiträge für Gesundheitsmagazine. Sie liebt ihren Naturgarten, Kunst, Museen und leitet die kleine Bücherei in ihrem Heimatort. Portrait und alle Bücher der Autorin auf: www.autorenwelt.de – unter Literaturbetrieb. Kontakt: gab.fey@drei.at.